Informatikethik – Interview mit Thomas Matzner über sein neues Buch
Thomas Matzner ist freiberuflicher Business Analyst und den Mitgliedern des German Chapter oft he ACM als ehemaliger Chairman bekannt. Gerhard Schimpf hat ihn über sein neues Buch – Informatikethik – befragt.
Gerhard Schimpf (GS):Thomas, im Januar erschien dein Buch “Informatikethik”. Was hat dich als Informatiker motiviert, dich in ein so komplexes Thema einzuarbeiten und eine Bereichsethik für uns Informatiker zu entwickeln?
Thomas Matzner (TM): Zwei Beobachtungen. Zum einen Bücher, Artikel und Vorträge, in denen oberflächlich und einseitig über Schaden und Nutzen von Informatiksystemen berichtet wurde und wird. Dem wollte ich etwas Solides entgegensetzen auf Basis der wissenschaftlichen Ethik sowie meiner Praxiserfahrung, wie Informatiksysteme entwickelt und betrieben werden.
Auf der anderen Seite erlebe ich gerade in dieser Praxis, dass nachlässig gearbeitet und dadurch Schäden erzeugt werden, ohne dass sich die Handelnden ihrer Verantwortung bewusst sind. Schäden entstehen nicht nur durch den Missbrauch von Daten, der den meisten wohl als erstes einfällt. Wenn beim Erarbeiten von Anforderungen und Lösungswegen nicht gründlich genug gedacht wird, entstehen Abläufe, die zwar keiner bewusst gewollt hat, die aber trotzdem schädlich wirken – für Bürger, Kunden oder die eigene Organisation.
GS: Wenn man sich das Inhaltsverzeichnis ansieht, scheint es, dass man es mit hartem Stoff zu tun hat. Glaubst du, dass Informatiker dieses philosophische Buch verstehen können?
TM: Hoffentlich nicht nur die Informatiker! Das Buch wendet sich an alle interessierten Menschen, seien sie Informatiker, Nutzer oder – ganz wichtig – Auftraggeber unserer Systeme. In die Auftraggeberrolle kann fast jeder arbeitende Mensch kommen. Da wird ein Fachteam zusammengestellt, das die Anforderungen an ein neu zu bauendes oder zu kaufendes System stellen soll. Schon haben alle Mitglieder dieses Teams die Verantwortung als Auftraggeber. Eine, wie ich zeige, ganz entscheidende Verantwortung, denn nur der Auftraggeber kann entscheiden, welchen Zweck das System erfüllen soll und vor seiner Inbetriebnahme und während seines Betriebs überprüfen, ob es ihn tatsächlich, wie erhofft, erfüllt.
Das Buch setzt weder Vorkenntnisse in Philosophie noch in Informatik voraus. Die Grundlagen der Ethik werden im Text entwickelt, meist an Fallstudien aus der Informatik oder auch anderen Lebensbereichen. Auch das nötige Wissen über Informatik wird vermittelt – hier geht es vor allem darum, einige Grundbegriffe zu klären, die durch die Medien schwirren, wie Algorithmen oder Künstliche Intelligenz.
Kurz: Wer genügend Interesse mitbringt, ein Buch von gut 300 Seiten zu lesen, braucht sich nicht zu fürchten.
GS: Du zitierst die bislang bestehenden Moralsysteme für Informatiker. Reichen die nicht aus, um das Thema abzudecken?
TM: Bei weitem nicht. Die meisten entfalten viel zu wenig Leitwirkung, um den Menschen in den Rollen, etwa als Entwickler oder Auftraggeber, im Alltag zu helfen. Am besten gefallen mir die Algo.Rules der Bertelsmann Stiftung, die es jedoch nicht mehr in mein Manuskript geschafft haben. Aber mein Ansatz ist noch viel konkreter.
GS: Warum hast du dem „neuen Veröffentlichen“ einen ganzen Abschnitt gewidmet?
TM: Weil das ein Lebensbereich ist, in dem das Internet tatsächlich unser Leben umkrempelt. Über Jahrtausende konnten nur wenige Menschen veröffentlichen, es war langwierig und teuer und wurde entsprechend sorgfältig gemacht. Heute steht es fast jedem offen. Wir haben aber noch keine verlässlichen Instinkte entwickelt, wie wir mit der neuen Freiheit umgehen. Beim Verunglimpfen von Personen etwa prallen zwei Menschenrechte aufeinander: der Persönlichkeitsschutz des Betroffenen und die Meinungsfreiheit des Autors. Ich bin zu dem Ergebnis gekommen, dass die sog. Freiheit des Internet dort endet, wo eine Botschaft ernsthaft in die Persönlichkeitsrechte eines Betroffenen eingreift. Da muss man löschen, und zwar lieber etwas zu streng als zu lax.
Andererseits plädiere ich für liberalen Umgang mit anderen Botschaften, auch mit „fake news“. Diese zu bekämpfen würde die Gefahr einseitiger Zensur eröffnen und wäre auch praktisch kaum mit ausreichender Qualität zu bewältigen. Hier setze ich auf Abhärtung des Rezipienten: Ihm muss klar sein, dass Identität und Interesse des Autors im Netz oft unsicher sind. Meinungsfreiheit bedeutet auch, dass der Rezipient unterschiedliche Quellen nutzt und Erfahrungswerte über deren Verlässlichkeit aufbaut.
GS: Es gibt doch eine ganze Reihe Verlage, die sich um Informatik-Themen kümmern. Warum erscheint dein Buch in einem Book-on-demand-Verlag?
TM: Weil das Thema heiß ist und ich damit viel Zeit gespart habe. Die klassischen Verlage erhalten stapelweise Manuskripte und brauchen viel Zeit für die Entscheidung, was sie produzieren wollen. Ein Lektorat brauchte ich nicht, da ich freiwillige Reviewer aus meinem Freundes- und Kollegenkreis gefunden habe, und zwar kritische, die mich nicht geschont haben. Ein angenehmer Nebeneffekt: Das Buch ist erschwinglich. Es soll ja nicht nur von Spezialisten und Fachbibliotheken gekauft werden, sondern ein möglichst breites Publikum erreichen.
GS: Was wünscht du dir, dass dein Buch bewirken soll?
TM: Nutzer von Informatiksystemen können Risiken klarer einschätzen und dadurch eine informierte Entscheidung treffen, welchem Risiko sie sich aussetzen und welchem besser nicht. Aber auch, was sie dafür bekommen.
Alle, die an der Entwicklung von Informatiksystemen mitwirken, inklusive der Auftraggeber und anderer Fachexperten, die keine Informatiker sind, kennen ihre Verantwortung, wissen, wo mögliche Fallstricke lauern und können Schadwirkungen im Vorfeld vermeiden.
Alle, die an der politischen Regulierung mitwirken, können auf solider Grundlage einschätzen, welche Regelung zu welchem Zweck Sinn ergibt. Das können Politiker, Juristen und hohe Beamte sein, aber auch die Normalbürger, die an der politischen Willensbildung mitwirken.
Ach, und schön wäre auch, wenn das Geschwurbel über Informatiksysteme weniger würde: über Algorithmen, die etwas „entscheiden“, über Maschinen, die etwas „wissen“ oder gar „verstehen“ und darüber, ob autonome Fahrzeuge Verantwortung für ihre Fehler übernehmen können. Wissen, Entscheidung und Verantwortung liegen immer beim Menschen. Nicht immer erfüllt er die Verantwortung. Umso wichtiger, ihn nicht sprachlich zu entlasten, indem man die Maschine vermenschlicht.
GS: Lieber Thomas, vielen Dank für deine Zeit und viel Erfolg für dein Buch!
Thomas Matzner
Informatikethik
Books on Demand, Norderstedt
ISBN 978-3-7504-3791-3
https://www.bod.de/buchshop/informatikethik-thomas-matzner-9783750437913